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Orgelspiel Notenblatt Konzert Stiftung

Kirchenmusik

»geistlich« und »weltlich«

Über keine andere musikalische Gattung ist im Laufe der Geschichte so viel gestritten worden wie über die Kirchenmusik. Zwei hohe, historisch beladene Begriffe stehen einander gegenüber: Kirche und Musik. Wenn sie zusammenkommen, geht es vor allem um ihre gegensätzlichen Ansprüche: gottesdienstliche Funktion und ästhetische Wirkung. Schon der Kirchenvater Augustinus (gest. 430) stellte fest, dass er bei vielen kirchlichen Gesängen zwar Andacht empfand, aber auch – wegen der Schönheit der Melodien – Vergnügen. Das durfte doch eigentlich nicht sein, denn der Genuss der Musik lenkt vom religiösen Inhalt ab, die Musik müsse sich auf ihre dienende Rolle beschränken und dürfe nicht zur Hauptsache werden. (Heute sehen wir es gerade umgekehrt: dass die Musik zur eigentlichen Andacht führt.) Die Konkurrenz zwischen geistlichem Inhalt und künstlerischer Wirkung ließe sich durch die Epochen verfolgen. Ob man an das berühmte Tridentiner Konzil im 16. Jahrhundert oder an die Auseinandersetzungen zur Zeit der Romantik denkt – immer ging es darum, was die »wahre Kirchenmusik« sei.

Ein kirchenmusikalisches Werk ist prinzipiell für den Gebrauch im Gottesdienst gedacht. Es sollte und soll – im ursprünglichen Verständnis – die liturgische Handlung tragen und dabei Andacht und Erbauung bei der Gemeinde bewirken. Dieser zweite Aspekt, die Wirkung bei den Hörenden, verselbstständigte sich im Laufe der Geschichte, wurde anspruchsvoller und führte dazu, dass die in der Kirche erklingende Musik bestimmte Hörerwartungen erfüllen musste. Und mehr: Sie entwickelte sich künstlerisch eigenständig, indem sie dem persönlichen Ausdrucksbedürfnis und den ästhetischen Ansprüchen des jeweiligen Komponisten entsprach.

Verkürzt zusammengefasst: Aus »Gemeinde« wurde immer mehr »Publikum«; Kirchenmusik wurde als Kunst genossen – oft genug ohne klaren Bezug auf die ursprüngliche liturgische Funktion. So betrachtet liegt in dem Wort Kirchenmusik ein unlösbarer Widerspruch – ein höchst fruchtbarer allerdings. Denn diesem Spannungsverhältnis verdanken wir die Fülle der großen, »epochemachenden« Meisterwerke vom Mittelalter über Renaissance, Barock, Klassik und Romantik bis ins 20. und 21. Jahrhundert.

Neben ihnen stand immer eine unübersehbare Fülle von kirchlicher Gebrauchsmusik, die sich nach dem jeweiligen Zeitgeschmack richtete. Sie war nicht für die Ewigkeit gedacht, sondern für den kirchenmusikalischen Alltag, d. h. für den normalen Gottesdienst und die jeweiligen Tagesanforderungen – bis hin zu den verschiedenen Spielarten zeitgenössischer Musikdarbietungen in der Kirche (Sacro-Pop usw.).

Ein besonderes Beispiel für das Wechselspiel zwischen beiden Seiten der Kirchenmusik bietet die Lübecker Geschichte: die Abendmusiken zur Zeit Dieterich Buxtehudes und seiner Nachfolger bis ins frühe 19. Jahrhundert. Sie waren nicht für den Gottesdienst gedacht, sondern wurden konzerthaft aufgeführt. Es handelte sich also um künstlerische, überspitzt ausgedrückt: um weltliche Veranstaltungen in der Kirche. Aber sie hatten geistliche Inhalte und sollten der Andacht und Erbauung der Gemeinde dienen.

Das ist genau unsere heutige Situation, wenn wir Kirchenkonzerte besuchen. Die Fragen sind dieselben. Schon bei den alten Abendmusiken ging es einerseits um geistige Argumentationen – insbesondere um den Wettstreit theologischer und ästhetischer Ansprüche – und andererseits um handfeste Organisationsfragen: Wie konnte, insbesondere bei groß besetzten Aufführungen mit Solisten und Orchester, die Finanzierung gesichert werden? Schon Buxtehude bat seine Mitbürger 1687, »sie mögen vielgünstig darauf bedacht sein, wie solches löbliche und manches frommes Herz ergötzende Werk ferner unterhalten werden könne«.

Damit sind wir wieder in unserer Gegenwart. Wie eine unendliche Melodie – oder kirchenmusikalisch gesprochen: wie ein Cantus firmus – zieht sich die Bitte um finanzielle Hilfe durch die Geschichte der Lübecker Kirchenmusik.

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